Für 45 Jahre war er auf keinem Stadtplan eingezeichnet, dieser Quadratkilometer große, geheime militärische Sperrbezirk östlich von Berlin: Hohenschönhausen.
Neben zahlreichen Dienststellen der DDR-Staatssicherheit - z.B. wichtigen Teilen der Auslandsspionage und des Operativ-Technischen Sektors (OTS), der u.a. für den Bau von Abhöranlagen zuständig war - gab es hier ein gefürchtetes Stasi-Untersuchungsgefängnis.
Endlose Zellen in modrigen Kellern und spartanisch ausgestattete, schalldichte Verhörräume geben Zeugnis vom systematischen Unrecht der DDR-Staatssicherheit, die mühelos Menschen brechen und falsche Geständnisse erpressen konnte.
Beinahe nobel ging es im Vergleich dazu bei den Stasi-Oberen wie Erich Mielke und seinen engsten Vertrauten zu: In der Berliner Normannenstraße hatten sie einen kompletten Häuserblock mit 29 Häusern und elf Innenhöfen als Stasi-Zentrale zu ihrer Verfügung. Mielke legte Wert darauf, standesgemäß im Haus Nr. 1 in der 1. Etage zu residieren und seine Dienst- und Privaträume geben tiefen Einblick in die Denk- und Entscheidungsstrukturen der Stasi-Lenker.
Die Stasi vereinigte nicht nur den Inlands- und Auslandsnachrichtendienst, sondern besaß zugleich die Befugnisse von Polizei und Staatsanwaltschaft, sodass sie jederzeit Ermittlungsverfahren eröffnen und Verhaftungen vornehmen konnte.
Ende 1989 verfügte die Stasi über 91.015 hauptamtliche Mitarbeiter und etwa 173.081 Inoffizielle Mitarbeiter (IM), d.h. jeder 60. DDR-Bürger arbeitete für die Stasi.
Und allein die für die Postüberwachung zuständige Abteilung M des MfS kontrollierte jeden Tag etwa 90.000 Briefe.
Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) wurde
32 Jahre lang (von 1957 bis zum Fall der Mauer 1989)
von Erich Mielke geleitet. Seit 1976 gehörte er auch
dem engsten Machtzirkel der DDR, dem Politbüro
der SED an, seit 1980 im Rang eines Armeegenerals.
Im November 1989 verlor er alle seine Ämter und kam
in Untersuchungshaft, die er zeitweise im ehemaligen
Stasi-Haftkrankenhaus von Hohenschönhausen verbrachte.
1993 wurde er wegen der Ermordung von zwei Polizisten
im Jahr 1931 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt.
Zwei Jahre später wurde er auf Bewährung vorzeitig
aus der Haft entlassen.
Er starb am 21. Mai 2000 in Berlin.
"Erst nach der Wende erfuhr ich: Nicht nur unsere Diensttelefone wurden abgehört. Auch in unseren Privat-Telefonen steckten Wanzen. Denn für Mielke war jeder ein Spion. Auch ich. Seine schlimmsten Feinde aber waren: "Diese Christen, Pfarrer, Katholiken!" Nach über zwanzig Jahren Arbeit für Mielke weiß ich: Dieser Allmächtige war weiter nichts als ein größenwahnsinniger Wichtigtuer und primitiver Feigling.
Er konnte sehr jähzornig werden. Am schlimmsten waren seine Tobsuchtsanfälle, wenn er seine Mitarbeiter zum täglichen Anschiß zu sich befahl. Dann hörten wir ihn durch beide Polstertüren brüllen. Rief er bei Krenz an, schnauzte er dessen Sekretärin an: "Isser da?" War Krenz gerade essen, blökte Mielke los: "Wie lange frißt denn der? Oder schlachten die da oben vielleicht 'ne Sau für den?"
Ich schämte mich jedes Mal, so was zu hören. Schließlich war er mein Chef und der wichtigste Minister der DDR.
Mittagessen ging Mielke seit Jahren nicht mehr. Aus zwei Gründen: Ausgerechnet könnte ja Honecker anrufen! "Im Speisesaal quatscht mich jeder Dussel an!" Er aß am Schreibtisch. Am liebsten Milchgries, Nudeln mit Tomatensoße, Bratkartoffeln. War die Portion zu groß, gab er mir die Hälfte. Begründung: "Kannste haben, brauchste nich essen jehn." Ich sollte nämlich von früh halb sieben bis 20 Uhr jede Minute für ihn erreichbar sein. Denn Mielke wollte alles augenblicklich erledigt haben, vergaß aber sofort, was das war. Dann brüllte er los: "Bist du denn doof, selber nachzudenken?"
Er beleidigte uns Frauen genauso wie Männer. Frauen in Hosen konnte er nicht ausstehen. Rock war Pflicht. Er stierte uns allen auf Busen und Beine. Aber ich würde schwören: Fremdgegangen ist Mielke nie. Dazu war er viel zu feige und verklemmt. Aber Frauen fies anmachen, traute er sich. Einmal zeigte er vor versammelter Mannschaft auf eine Genossin und gröhlte: "Die ist schon zehn Jahre hier und hat noch keen Kind von mir, ha ha ha!" Jeder fand das ekelhaft. Aber jeder lachte diensteifrig. So war das eben.
Er selbst hielt sich für unfehlbar, sogar als er schon über 80 war. Oft protzte er: "Bring mir doch einen, der das hier machen kann!" Dabei war er längst völlig senil. Trotzdem begehrte keiner seiner Generäle auf, außer Markus Wolf. Vor dem hatte Mielke Respekt. Vor Honecker aber kroch er im Staub.
Wenn Honecker übers weiße Sonder-Telefon anrief, sprang Mielke auf, stand allen Ernstes stramm und trompetete zackig: "Erich, jestatte, dass ich Dir melde!"
Ja, er war nicht mehr als ein lächerlicher Hampelmann. Aber einer mit unvorstellbar großer Macht. Denn er riss alles an sich: Pioniertreffen, Grenzkontrollen, Wintereinsätze in der Braunkohle, Künstler-Gastspiele, jeder halbwegs wichtige Betrieb - alles war Sache der Staatssicherheit. Sogar die Versorgung mit Damenbinden! Eine Ministerratsvorlage über Engpässe bei diesem Artikel erhob Mielke zur Chefsache, getreu seinem Motto: "Ich muß alles wissen, was im Lande vorgeht, restlos alles!"
Vielleicht war er so machtgierig, weil er so unscheinbar war. Klein, mit abstehenden Ohren und schlechtem Gebiß. Ekelhaft, wie er schamlos in der Nase bohrte und sich den Kopf bis aufs Blut zerkratzte. Er griff auch vor uns Frauen in die Hosentasche und rückte zurecht, was sich verklemmt hatte. So was war Politbüro-Mitglied!
In Wahrheit war er ein jämmerlicher Waschlappen. Mielke zitterte um sein kostbares Leben. Er hatte panische Angst vorm Sterben und glaubte, alle wollen ihn vergiften. Ein Professor aus dem Regierungskrankenhaus mußte schwören, daß in simplen Kreislauftropfen wirklich kein Gift sei. Der Genosse Minister trank auch niemals Alkohol aus Angst, er könnte im Suff Geheimnisse verraten. Wenn zu seinem Geburtstag das komplette Politbüro antanzte, hatte Mielke stets Selters im Sektglas. "Revolutionäre Wachsamkeit ist oberste Pflicht des Tschekisten", palaverte er dann grinsend.
Aber eins muß man ihm lassen: Reinlich war er. Wir Sekretärinnen durften dem Genossen Generaloberst die Waschschüssel für seine Fußbäder in sein Dienstzimmer tragen. Er hatte Ausschlag an den Füßen und badete sie mit pedantischer Sorgfalt. Kein Tröpchen durfte auf den Dynamo-roten Teppich seines Büros fallen.
Apropos Dynamo: Mielke war sehr eitel und wollte umschwärmt werden. Beste Gelegenheit waren die Bälle "seines" Fußball-Clubs. Dann ließ Mielke sein Trudchen hocken und schwofte den ganzen Abend. Genug Schlagersängerinnen waren ja immer da: Viele rissen sich ja darum, vor ihm aufzutreten. Doch das wollen sie heute am liebsten vergessen.
Ich werde die zwanzig Jahre im Dienste Mielkes nicht vergessen. Und nach allem, was auch mir erst jetzt über die Stasi bekannt ist, sage ich ehrlich: Ich schäme mich dafür, daß so ein Mensch wie Mielke die Macht über ein ganzes Volk hatte."
Interview vom 28. Mai 2000 mit der Berliner Zeitung